Definitionssache

Es gibt kein von der Sprache unabhängiges Denken. Und das Denken (Theorie) beeinflusst die Praxis. Dementsprechend ist die Bedeutung der Sprache und ihrer Zeichen nicht zu unterschätzen. Besonders wichtig ist dieser Umstand in der Wissenschaft, denn ihre theoretischen Erkenntnisse sollen fortschrittliche, praktische Veränderungen im Leben der Menschen bewirken. Doch, wenn die Begriffe einer Theorie und somit die Theorie selbst ungenau ist und viel Interpretationspielraum zulässt, dann ist auch das Handeln für die Praxis vage und orientierungslos – im schlimmsten Fall zufällig bzw. nur nach Versuch und Irrtum. Beispiele für falsche Begriffswahl finden sich oft in der Politik und in der Ökonomie:

1. Es werden wissenschaftliche Begriffe benutzt, ohne den Begriffsinhalt und Begriffsumfang zu wissen. (z.B.: „System“ ohne Verständnis von Wechselwirkung zwischen Elementen, Teilsystemen und Gesamtsystem usw., „Wert“ ohne Verständnis vom seinem Wesen und dem Unterschied zum „Preis“, „Kapital“ ohne Verständnis des Begriffs „Wert“, …)

2. Es werden statt der wissenschaftlichen Begriffe emotionalisierende Methapern und unzulässige Vergleiche eingesetzt. (z.B.: EU-Rettungsschirm, eiserner Vorhang, Bad Bank, altes Europa, Hedgefonds als Heuschrecken, …)

3. Es werden nicht eindeutig definierte Begriffe benutzt, die zuviel Interpretationsspielraum erlauben und praktisch bedeutungslos werden. (z.B.: Freiheit, Wachstum, Demokratie, Gewalt, …)

Je mehr mit Metaphern gearbeitet wird, um so ungenauer und unwissenschaftlicher wird das Ganze. Es ist auch ein relativ sicheres Indiz dafür, dass der Nutzer solcher Wortspiele sich selbst nicht gut in dem Themengebiet auskennt – Unwissenheit wird dadurch kompensiert. Wenn man Dinge erklären und veranschaulichen möchte, kann man Vergleiche ziehen, aber dies immer nur mit äußerster Vorsicht. Ein weiteres Beispiel:

Stell dir vor, dass vor dir ein großer Eimer reinster, weißer Farbe steht. Nun nimmst du kleinere Eimer, die jeweils eine andere Farbe beinhalten und schüttest all diese Farben in den großen Eimer und mischt alles miteinander. Was passiert? Die schöne, weiße Farbe ist nun nicht mehr aufzufinden, da alle Farben miteinander vermischt Schwarz ergeben. So ist das auch mit der Multi-Kulti-Gesellschaft.

Gegenvergleich:
Stell dir eine weiße Leinwand vor. Langweilig, vom geringem Preis und Nichts-sagend. Dann nimmt man viel Farbe und male in schönsten Konturen und Mustern ein Bild auf diese Leinwand. Wenn man es gut macht, könnte dieses (bunte) Kunstwerk Millionen einbringen. Und so ist das auch mit der Multi-Kulti-Gesellschaft.

Nun wer hat Recht? Mit dem sog. gesunden Menschenverstand kommt man hier nicht weiter, denn man muss wissen, dass jeder Vergleich hinkt! Der eine mehr, der andere weniger. In diesem Fall ist keiner der beiden Vergleiche brauchbar zum Verständnis (oder gar zum Lösen) des realen Problems.  Aber dieses Beispiel verdeutlicht wie sehr man mit Vergleichen, die im Allgemeinen äußerst häufig angewendet werden (bestes Beispiel: Polit-Talkshows und Stammtische), aufpassen muss. Man kann damit Menschen sehr leicht manipulieren. Sie dann als Leitfaden zum Handeln zu nehmen, wäre absolut fahrlässig.

Deshalb eine kurze Klarstellung, was überhaupt ein Begriff, ein Wort und eine Definition ist. Leider sind den Meisten diese Definitionen unbekannt, obwohl sie immens wichtig für eine wissenschaftliche Arbeit sind.

Begriff: „Die gedankliche Abbildung einer Klasse von Individuen oder von Klassen auf der Grundlage ihrer invarianten (!) Merkmale, d.h. Eigenschaften oder Beziehungen. Der Begriff stellt neben der Aussage das Grundelement jeglichen rationalen Denkens dar.“¹ (Beispiele: Regelung, Wert, Enthalpie, Gravitation, Varianz, …)

Wort: „Folge von Zeichen, Zeichenreihe.“¹ (z.B. oben, wie, oder, zu, Regelung, Varianz, …)

Definition: „Die Bestimmung des Wesens von Dingen, Eigenschaften, Beziehungen usw., des Inhalts oder der Bedeutung von Begriffen, Worten, Zeichen bzw. die Festlegung von Begriffs-, Wort-, und Zeichenbedeutungen unter Befolgung logischer Verfahrensregeln.“¹

Ich komme nun zur falschen Begriffsdefinitionen aus dem Alltag mit konkreten Beispielen:

Aufgabe = Tätigkeit + Objekt
Demokratie = Menschenrechte + freie Wahlen + Religions- und Meinungsfreiheit + ….
Automobil = Motor + Getriebe + Türen + Räder + ….

Dem aufmerksamen Leser fällt auf, dass hier 1. nicht das Wesen der Begriffe erklärt wird (was eine Definition jedoch erfordern würde), sondern nur bestimmte Elemente aufgezählt werden, die der jeweilige Begriff beinhaltet und deshalb 2. hier nicht systemisch (≠ systematisch) gedacht wird. Besonders offensichtlich wird es im dritten Beispiel.

zu 1.: Beispielsweise fragt man sich in der „Definition“ zur Demokratie, wie diese Definition zustande kommt und was der Maßstab für die genannten Aspekte ist. Gehört bspw. Streikrecht zur Demokratie? Wenn ja, warum? Es ist nicht klar, warum bestimmte Elemente zur Demokratie gehören sollen und andere Elemente unerwähnt bleiben, von denen man genauso „meinen“ würde, dass sie dazugehören müssten. Das Invariante fehlt.

zu 2.: Diese „Definitionen“ sind nichts anderes als eine Aufzählung von wirklichen oder nur scheinbaren Elementen eines Systems. Das Problem ist jedoch, dass ein System mehr als die Summe seiner Teile ist und somit diese Aufzählung nichts über das System selbst aussagt. Ein Pkw kann ja nicht mit einer Anhäufung von Motor, Getriebe, Türen, Rädern, usw. gleich gesetzt werden. Es muss neben den wesentlichen Elementen auch ihre Wechselwirkung betrachtet werden und daraus resultierend das Wesen (das Allgemeine, das „Gleichbleibende“) dieses Systems. Eine (vereinfachte) mögliche Definition von Pkw, die den Regeln der Begriffsbestimmung unterliegt, wäre: Ein motorisiertes Kraftfahrzeug, das zur privaten Beförderung von Personen dient.

Abschließend kann man sagen, dass es bei jeder Diskussion und jeder schriftlichen Arbeit, die ansatzweise den Weg der Wissenschaftlichkeit verfolgt, ein Bewusstsein für die richtige Verwendung der gewählten Begriffe geschaffen werden muss. Zudem muss eine öffentliche Diskussion über Begriffsinhalte und -umfänge geführt werden, denn die große Unwissenheit über die Verwendung von Begriffen hemmt im Allgemeinen letztlich die Entwicklung auf allen Gebieten in der Gesellschaft und führt neben dem gedanklichen Chaos letztlich zu einem Chaos in der Praxis, im zielgerichteten Handeln, im bewusst geplanten Gestalten der Zukunft. Auch die Betonung der Quantität muss zugunsten der Qualität reduziert werden, denn die komplexen Probleme, die wir heutzutage vorfinden, lösen sich nicht durch die ausgeprägte Nutzung der Umgangs- und Bildungssprache, sondern nur mit dem geduldigen Nutzen der Wissenschaftssprache.

¹ Philosophisches Wörterbuch, Klaus, 1974

Nachtrag: Definitionen lassen sich in Real- und Nominaldefinitionen einteilen. Letztere sind quasi Festlegungen wie sigma = Normalspannung. Ich habe mich jedoch vor allem auf Realdefinitionen bezogen, die das Wesen einer Klasse von Objekten erklären. Dabei ist noch zu sagen, dass keine subjektiven Wahrnehmungen in Realdefinitionen auftauchen dürfen. Bsp.: „Pkws sind Statussymbole“ bezieht sich auf das Empfinden des Subjekts und hat nichts mit der allgemeinen Eigenschaft aller Klassenobjekte, hier Pkw-Modelle, zu tun. Es gibt Modelle, die für manchen Betrachter auch kein Statussymbol sein können. Es handelt sich somit um eine subjektive und willkürliche Scheindefinition. Ein Luxusklasse-Pkw dagegen kann beispielsweise unter anderem (!) über seinen Zweck „Generierung und Erhaltung von Status für seinen Käufer“ definiert werden, weil dies ja eine Eigenschaft ist, die jedem Objekt der Klasse „Luxusklasse-Pkw“ angehört. Der Versuch der preislichen Abgrenzung (Wo soll die Preisgrenze sein?) von solchen Pkw wäre dagegen wiederum willkürlich und subjektiv.

Der Grund, warum keine subjektive Empfindungen auftauchen dürfen, ist zum einen, dass natürlich Objekte (z.B. Stein, Wasser, Baum) und künstliche, also vom Menschen geschaffene Objekte unabhängig vom Individuum sind. Bei ersteren gibt es außerdem keinen innewohnenden Zweck. Und bei letzteren ist es so, dass der Mensch (Subjekt) das künstliche Ding (Objekt) zwar erschafft (aus einem subjektiven Interesse heraus; z.B. Gewinnstreben), aber er selbst keinen bestimmenden Einfluss auf das Wesen des Objekts hat. Bsp.: Der Erfinder des Messers wollte eventuell effektiver und effizienter an sein Essen herankommen, aber ein Messer definiert sich nicht über sein subjektives Interesse, sondern über eine objektive, dem Ding innewohnende Eigenschaft – nämlich (vereinfacht) ein spezielles Schneidwerkzeug zu sein. Also folgt: Weder ein Einzelner noch der Konsens von Vielen entscheidet darüber, was ein Pkw oder ein Stein ist, sondern die objektiven Bedingungen. Dennoch ganz ohne Subjektivität ist das Ganze nicht, da schließlich der  Mensch das definierende Subjekt ist, aber hier wären wir wieder beim Thema der relativen Wahrheit, die sich der absoluten Wahrheit annähert, aber diese nie erreicht.

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3 Antworten zu Definitionssache

  1. lemondisko schreibt:

    Das Pladoyer für ein wissenschaftliches Vorgehen bei Begriffsbildung, Definition etc. teile ich unbedingt, allerdings denke ich, dass die Folgen der Unwissenschaftlichkeit „auf allen Gebieten in der Gesellschaft“ hier nicht richtig eingeschätzt werden.
    Beispiel: Ein Bürger kann noch so viele Illusionen oder falsche Vorstellungen über den Staat haben, seine Funktion (als Wähler, Steuerzahler,…) erfüllt er doch. Das Selbe gilt für den Politiker oder für den Automechaniker.
    Was alle diese Gestalten brauchen, um ihre Funktionen zu erfüllen und ihre Zwecke zu erreichen, ist praktisches Wissen. Dieses muss nicht wissenschaftlich sein, im Gegenteil; oftmals ist es hilfreich, wenn es sich um rein instrumentelles Wissen handelt, das sich auf simplifizierende, verfälschende und unwissenschaftliche Hypothesen stützt. Folglich geht eine „Verunwissenschaftlichung“ der öffentlichen oder fachlichen Sprache nicht zwingend mit einer Entwicklung zum „Chaos in der Praxis“ einher, eher im Gegenteil.
    Wissenschaftliches Denken und Arbeiten hat in erster Linie einen Nutzen für die Wissenschaft (als Suche nach Wahrheit), nicht für „Problemlösungswissen“, das in Alltag und Fachbereichen gefragt ist. Diesen ist ein instrumentell-technisches, u.U. „unwahres“ Wissen ausreichend, was die Arbeit der Wissenschaft freilich erschwert.

  2. dialecticprogress schreibt:

    Eine Definition vorweg, um es klar zu stellen, dass wir über das selbe reden:
    Praxis: „gesellschaftlicher Gesamtprozess der Umgestaltung der objektiven Realität durch die Menschheit. Praxis ist die ‚gegenständliche Tätigkeit‘, das ‚ganze Tun und Treiben’… der Menschen zur Veränderung ihrer natürlichen und sozialen Umwelt.“ 1 (siehe Artikel)

    Mir scheint, dass du den Begriff „Praxis“ mit „Alltag“ gleichsetzt, aber dies ist nicht richtig. Es kann schon sein, dass der Alltag vieler Menschen (scheinbar) geregelt ist und sie jeden Tag aufs Neue „funktionieren“ und Alltagsprobleme (z.B.: Radwechsel, Rasen mähen usw.) meistern und dafür ist, wie du auch sagst, nicht unbedingt eine wissenschaftliche Herangehensweise nötig. Oftmals geht es eben mit relativ niedriger Wahrheit (siehe Artikel „Was ist Wahrheit“) oder praktischer Erfahrung.
    Ich meine mit „Chaos in der Praxis“ aber die Orientierungslosigkeit für das gesellschaftliche Handeln, für die zielgerichtete Tätigkeit, für das gesellschaftliche Planen der Zukunft. Und dafür ist die Wissenschaft unabdingbar, weil sich z.B. Probleme wie die Krisen, die Armut, Kriege, Klimawandel, usw. eben nicht durch Alltags(halb)wissen oder gar Unwissenheit lösen lassen.

    Habe den Artikel entsprechend ergänzt.

  3. lemondisko schreibt:

    Okay, ich hatte „Praxis“ tatsächlich anders aufgefasst. Nicht zuletzt wegen deinen Hinweisen auf eine „öffentliche Diskussion“ oder Folgen auf „allen Gebieten in der Gesellschaft“ nahm ich an, dass es um ein allgemeineres Handeln ginge.

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